rating service  security service privacy service
 
1992/12/31 Europa: Festung oder Demokratie?
DIR Unter diesem Titel fand vom 13. bis 15. November 1992 auf Burg Rothenfels am Main die Jahrestagung des FIFF (Forum Infor...

Unter diesem Titel fand vom 13. bis 15. November 1992 auf Burg Rothenfels am Main die Jahrestagung des FIFF (Forum Informatiker und Informatikerinnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung) statt.

Der 1.1.1993 ist für die Europäische Gemeinschaft der Stichtag für den Wegfall nationalstaatlicher Grenzen und der Beginn eines einheitlichen Binnenmarktes vom Skagerak bis Gibraltar. Die Aussicht auf einen einheitlichen Markt von über 300 Millionen vergleichsweise wohlhabender Konsumentinnen undKonsumenten hat offenbar lange Zeit Zweifel an der demokratischen Verfassung Europas beiseite gewischt. Erst spät und nach Unterzeichnung der Verträge von Maastricht werden überall in Europa Bedenken laut.

Der Begriff "Festung Europa" dient in den Medien als Metapher für die Auswirkungen politischer Ambitionen, den europäischen Wirtschaftsraum zu sichern und die europäischen Interessen gegen die Interessen der übrigen Welt zu verteidigen, wobei zwischen den Interessen der WeltmarktkonkurrentenNordamerika und Japan einerseits, und denen des Restes der Welt andererseits, differenziert wird.

Die politische und wirtschaftliche Integration Europas wird noch viele Jahre auf sich warten lassen. Die verwaltungstechnische Integration wird durch europaweite Informations- und Kommunikationstechniken schon jetzt betrieben. Computernetze bilden die Nervenbahnen des europäischenSozialversicherungssystems, von Europol und einer gemeinsamen europäischen Verteidigungs-Infrastruktur und sind natürlich die Grundlage europaweit operierender Unternehmen. Für diese informations- und kommunikationstechnische Integration Europas werden erhebliche Forschungsmittel bereitgestellt. Aufder Strecke zu bleiben drohen nicht nur die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die mageren Erfolge, die der Umweltschutz in den letzten Jahren erzielen konnte.

Zu Beginn der Veranstaltung stand eine Podiumsdiskussion zum Thema "Pro und Contra europäische Einigung". Schon die Zusammensetzung des Podiums ließ auf eine Fülle von Themen schließen, die naturgemäß nicht ausdiskutiert sondern bestenfalls nur angerissen werden konnten. Vom Asylantenproblem überden bürokratischen Moloch EG, den Schengener Abkommen, den Verträgen von Maastricht, den scheinbar eingeschärnkten Bürgerrechten bis hin zu Schlagworten wie neue Weltordnung, Friedensdividende und Subsidiarität spannte sich der Bogen der Themen in einer zum Teil sehr emotional geführtenDiskussion.

Als Angehöriger eines Noch-Nicht-EG-Staates wurde mein Bild des bürgerfernen und arroganten Molochs in Brüssel bestätigt, vorallem in der Aussage des Europarechtsjuristen Frank Emmert zur Frage der mangelnden Information zu den diversen Verträgen und Abkommen: "Wenn Bürger Informationen wollen, dannsollen sie auch dafür bezahlen!". Oder in der Bemerkung des Mitglieds der GD XIII (Telekommunikation), Herbert Ungerer, zur mangelnden Präsenz von EG-Einrichtungen in den Mitgliedsstaaten: "Fahren Sie doch nach Brüssel, dort wird Ihnen alles erklärt!".

In weiterer Folge wurde in vier Arbeitsgruppen die eingangs erwähnten Themen ausführlich diskutiert.

1. Sicherheitspolitik

Unter dem Begriff "Sicherheitspolitik" wird zunehmend die gesamte Sicherheitsvorsorge des Staates gegen Bedrohungen von innen und außen verstanden. Die Maastrichter Verträge sprechen von einer "echten europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität". Die für den Frieden so notwendige Festigungdes Rechts auf Freizügigkeit und des Rechts auf Asyl in Europa steht heute ebenso zur Disposition wie die Versuche einer De-Militarisierung nach Beendigung des Ost-West-Konflikts.

In der Verteidigungspolitik geht der Trend zunehmend weg von der Verteidigung des Staatsgebietes gegen militärische Bedrohung hin zur Verteidigung nationalstaatlicher und europäischer Interessen weltweit. Nach dem Golfkrieg wird der Nord-Süd-Konflikt (als Metapher für den Arm-Reich-Konflikt)zunehmend verschärft dargestellt. Auch das ressourcenarme Europa soll sich auf die militärische Befriedung von "low intensity conflicts" durch "out-of area" -Einsätzen mit schnellen Eingreiftruppen einrichten. Die Modernisierung der NATO und das Wiederaufleben der WEU (Westeuropäischen Union) stehengegen eine zeitgemäße Entwicklung und Ausstattung des KSZE-Prozesses.

Neben der konkreten Politik verschiedener europäischer Staaten wurde die politische Weichenstellung in der BRD behandelt. Hier ist der Krieg als Mittel der Konfliktlösung keinesfalls von der Bevölkerung mehrheitlich akzeptiert und das Militär muß erhebliche Anstrengungen unternehmen, um nach demZerfall des Ostblocks seine Existenz zu legitimieren und - angesichts der hohen finanziellen Kosten der Vereinigung - die Mittel zu seiner vornehmlich technischen Modernisierung zu erhalten. Die Möglichkeit eines weltweiten Einsatzes deutscher Truppen wird, trotz zunehmender Annäherung der großenpolitischen Parteien, in der BRD-Öffentlichkeit immer noch sehr kontrovers diskutiert.

Als Resümee kann gesagt werden, daß der sich wieder festigenden "Militärlogik" eine "Zivillogik" entgegengesetzt werden muß, wie sie sich im europäischen Pazifismus, in der Friedensforschung, aber auch im KSZE-Prozeß entwickelt hat. Konfliktlösung darf nicht mehr militärisch ausgetragen werden. Zuthematisieren ist das demokratische Recht individueller und kollektiver Verweigerung: Die Verweigerung von bestimmten, die "Festung" zementierenden Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sowie alle Formen der Kriegsdienstverweigerung einschließlich der Desertion. Es ist unerträglich, daß unter denFlüchtlingen insbesondere die Deserteure in Europa keine Chance der Anerkennung haben.

2. Konsum und Arbeit, Sozial- und  Gesundheitssystem

Europaweit sind die einzelstaatlichen Systeme der sozialen Sicherung und der Gesundheitsversorgung zur Disposition gestellt. Sozialleistungen werden abgebaut. Das Gesundheitswesen soll marktwirtschaftlichen Mechanismen, wie Privatisierung, unterworfen werden. Der Datenfluß zwischen den Bürokratienim Sozial- und Gesundheitswesen wird mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnik ausgebaut. Die Daten der Bürgerinnen und Bürger werden umfangreich erfaßt. Beispielhaft wurde ausführlich über die deutschen maschinenlesbaren Ausweise Sozialversicherungsausweis (SVA) undKrankenversichertenkarte diskutiert.

Die EG-Kommission prüft die Möglichkeit für eine gegenseitige Anerkennung der einzelstaatlichen Sozialversicherungsausweise. Im Rahmen des EG-finanzierten Forschungsprogramms AIM (Advanced Information in Medicine) wird eine europäische Sozial- und Gesundheitsdatenbank entwickelt. Die Daten von rund300 Millionen Mitgliedern der europäischen Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherungen sollen zentral gespeichert werden. Der SVA wäre in einer europäischen Datenbank mit Informationen über alle Sozialversicherten in Europa ein zentraler Baustein eines umfassenden europaweitenKontrollsystems. So sehr die EG-Staaten die "marktwirtschaftliche Sanierung" des Sozial- und Gesundheitswesens auch auf EG-Ebene vorantreiben, so wenig tut sich bei der Entwicklung demokratischer Strukturen und der Sicherung der europäischen sozialen Rechte und der Menschenrechte.

Arbeitslosigkeit, zunehmende Verschlechterung der sozialen und gesundheitlichen Lage eines großen Teils der Menschen und ihrer Arbeitsbedingungen europaweit, gleichzeitiger Aus- und Aufbau immer größerer bürokratsicher Apparate und die zunehmende Verflechtung der Unternehmen sowie immer effektivereinformationstechnische und organisatorische Instrumente der Kontrolle und des Zugriffs auf die Menschen (als Arbeitnehmer, Konsumenten, Klienten, Patienten) und die Gesellschaft insgesamt sind Kennzeichen der Entwicklung Europas im Konsum-, Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsbereich.

Nach ausführlicher Diskussion über die Lage in jenen Ländern, die durch Vertreter repräsentiert wurden, wie Österreich, Niederlande, Schweden, Schweiz und BRD, haben wir uns verständigt, die bislang schon gute internationale Zusammenarbeit von NGOs (Non Governement Organisations) fortzuführen, zuintensivieren und vorallem auf andere bisher noch nicht einbezogene europäische Länder auszubauen. Um den Tagungstourismus nicht noch stärker anzuheizen und das Budget der beteiligten Organisationen nicht Übergebühr zu belasten soll die internationale Vernetzung in erster Linie im gezieltenAustausch von Informationen zu konkreten Problemen über elektronische oder herkömmliche Kanäle abgewickelt werden.

3. Forschungs- und Technologie-  Politik der EG

1992 wurden und werden wichtige Weichenstellungen für die europäische Forschungs- und Technologie (FuT)-Politik durch die Forschungsminister im Rat der EG erwartet. Der Rat wird sich mit der Überprüfung des 3. Rahmenprogramms (1990-1994) und mit dem Kommissionsvorschlag für das 4. RahmenprogrammDer deutsche Bundesminister für Forschung und Technologie hat seine Vorstellung und Empfehlungen zur künftigen Gestaltung der EG-Forschungsprogramme in zwei Papieren formuliert.

Danach sollen Informations- und Telekommunikations-, Werkstoff- und Biotechnologien der Kernbereich der EG-Forschungsförderung bleiben und bis zu 60% der Mittel des 4. Rahmenprogramms erhalten. Als Schlüsselbereich für die künftige Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft wird insbesonderedie Biotechnologie angesehen. Der Minister fordert eindeutig die Konzentration auf die eigentlichen Ziele des Forschungskapitels im EWG-Vertrag, nämlich Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und Erhaltung und Verbesserung der Lebensgrundlagen der Gemeinschaft.EG-Foschungspolitik und strategische Ziel- und Schwerpunktsetzungen der Eureka-Initiative (z.B. HDTV, molekulare Bioinformatik, Biosensoren, Bioprozessoren, Verkehrssysteme) sollen zusammengeführt werden.

In der Arbeitsgruppe wurden in Zusammenhang mit der FuT-Politik schwerpunktmäßig die Bereiche Ökologie, Asymetrien, Demokratie, Rüstung und Festung Europa diskutiert.

Aus der Diskussion sei folgender Punkt herausgegriffen. Nach dem Willen der Außen- und Verteidigungsminister der WEU sollen deutsche Soldaten bald wieder in den Krieg ziehen müssen. Staatssekretär Schönbohm, Bundesministerium für Verteidigung der BRD, erklärte vor wenigen Wochen: "Der Vertrag vonMaastricht hat den Willen der Staaten der Europäischen Gemeinschaft bekräftigt, in Zukunft auch in der Außen- und Sicherheitspolitik stärker zusammenzuarbeiten. Für die Europäische Union wird eine gemeinsame Verteidigungspolitik entwickelt, wobei das Instrument zur Verwirklichung derverteidigungspolitischen Ziele die WEU ist."

Demnach sind moderne, leistungs- und damit kooperationsfähige Rüstungsindustrien weiterhin unverzichtbar. Die Entwicklung eines europäischen Rüstungsmarktes setzt voraus, daß die wissenschaftlichen, technologischen und industriellen Fähigkeiten der EG-Mitgliedsstaaten zur Herstellung vonleistungsfähigen Waffen- und Führungssystemen erhalten bleiben. Nach Maastricht scheint die Zeit reif zu sein, die seit langem angestrebte europäische Rüstungsagentur zu errichten.

4. Eurovision: Idyll oder Müll?  Computeranwendungen auf dem  ökologischen Prüfstand

Informations- und Kommunikationstechniken galten zunächst als umweltverträgliche Technologien par excellense. In den letzten Jahren sind aber auch die Schattenseiten der Beziehung von Informatik und Ökologie zum Thema für Forschung und Öffentlichkeit geworden. Während die hochgiftige Chipproduktionund die bisher weitgehend ungelöste Entsorgung bzw. Wiederverwertung von Computerschrott schon gelegentlich auf Tagungen und in den Medien behandelt wurden, steht die ökologische Bewertung von Computeranwendungen - vor allem im internationalen Kontext - noch ganz am Anfang.

Aufgrund der Auswahl der Referenten wurde diese Arbeitsgruppe zur PR-Veranstaltung von Daimler-Benz. Zumindest am ersten Halbtag entspannte sich die Diskussion ausschließlich über Ökologie und Sicherheit des Autoverkehrs, wobei alternative Verkehrsmittel gar nicht opportun zu sein schienen, galtdoch das Augenmerk hauptsächlich der Verbesserung im Sicherheits- und Technikbereich des Autos.

Im Sinne des Tagungsortes - von Burg Rothenfels gingen schon bedeutende geistige Anregungen aus, insbesondere unter Leitung von Romano Guardini in den Jahren 1927 bis 1939 - müssen rasch Impulse gesetzt werden, um die Festung Europa in allen hier diskutierten Bereichen in der Öffentlichkeit bewußtzu machen und in weiterer Folge selbige abbauen zu können.




Die angezeigten Informationen und Artikel werden im Rahmen des ARGE DATEN Informationsdienstes kostenlos zur Verfügung gestellt. Alle Angaben sind sorgfältig recherchiert, es wird jedoch für die Richtigkeit keine Gewähr übernommen. Alle Angaben, Aussagen und Daten beziehen sich auf das Datum der Veröffentlichung des Artikels. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass insbesondere Links, auf Websites gemachte Beobachtungen und zu einem Sachverhalt gemachte Aussagen zum Zeitpunkt der Anzeige eines Artikels nicht mehr stimmen müssen. Der Artikel wird ausschließlich aus historischem und/oder archivarischen Interesse angezeigt. Die Nutzung der Informationen ist nur zum persönlichen Gebrauch bestimmt. Dieser Informationsdienst kann professionelle fachliche Beratung nicht ersetzen. Diese wird von der ARGE DATEN im Rahmen ihres Beratungs- und Seminarservice angeboten und vermittelt. Verwendete Logos dienen ausschließlich zur Kennzeichnung der entsprechenden Einrichtung. Die verwendeten Bilder der Website stammen, soweit nicht anders vermerkt von der ARGE DATEN selbst, den in den Artikeln erwähnten Unternehmen, Pixabay, Shutterstock, Pixelio, Aboutpixel oder Flickr.

© ARGE DATEN 2000-2023 Information gemäß DSGVOwebmaster