1992/12/31 Serie: Rechtsprechung zum Informationsrecht
DIR Teil 4: VwGH I
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Teil 4: VwGH I
Nach der in der letzten Folge vorgestellten Rechtsprechung der Straßburger Instanzen (EKMR, EGMR) kehren wir nun wieder nach Österreich zurück und betrachten die Judikatur des zweiten österreichischen Höchstgerichtes. Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) ist laut Art. 129 BVG für die Sicherung derGesetzmäßigkeit der öffentlichen Verwaltung zuständig. Wer sich von einem Bescheid einer Behörde in letzter Instanz in einem Recht verletzt fühlt, kann den VwGH anrufen, dieser kann den Bescheid dann als rechtswidrig aufheben. Es ist auch möglich, daß sich ein Beschwerdeführer sowohl inverfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten als auch in anderen Rechten verletzt fühlt. Dann muß er sich zuerst an den VfGH wenden, der die Beschwerde anschließend an den VwGH abtreten kann.
Die hier zitierten Erkenntnisse und Beschlüsse des VwGH wurden zum Großteil der Amtlichen Sammlung der "Erkenntnisse und Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes" entnommen, die üblicherweise mit VwSlg. oder mit VwSlgNF ("Neue Folge", d.h. ab 1946) abgekürzt wird. Weil es so viele Beschwerden gegendie Finanzbehörden gibt, ist die Sammlung geteilt in einen administrativrechtlichen (A) und einen finanzrechtlichen Teil (F). Um Platz zu sparen, haben wir die Nummern der Sammlung etwas gekürzt und z.B. "8444 A/73" statt "VwSlg. 8444 (A)/1973" geschrieben. Neuere Erkenntnisse sind noch nicht in derSammlung abgedruckt und hier mit Datum und Geschäftszahl zitiert.
Verwaltungsverfahren
Eigentlich könnte man ja überhaupt alle Verfahren als Prozesse der Informationsverarbeitung betrachten und das ganze Verfahrensrecht zum Informationsrecht zählen. Dies würde allerdings den Rahmen dieser Serie sprengen, außerdem gibt es zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen ohnehin genugVeröffentlichungen. Wir wollen in diesem Teil der Serie aber einige Punkte herausgreifen, die für den Informationsfluß im Verwaltungsverfahren besonders bedeutend sind.
Während eines Verfahrens - und auch nach dessen Abschluß - haben alle Parteien ein Recht auf Akteneinsicht. Diesem wohl wichtigsten Informationsrecht im Verwaltungsverfahren ist weiter unten ein ganzes Kapitel gewidmet.
Bevor im Verwaltungsverfahren ein Bescheid erlassen wird, muß nach Par. 45 Abs. 3 AVG den Parteien die Möglichkeit gegeben werden, zum Ergebnis des Beweisverfahrens Stellung zu nehmen. Im sog. "Parteiengehör" muß die Behörde den Parteien deshalb den gesamten Inhalt der Ergebnisse der Beweisaufnahmenzur Kenntnis bringen, nicht bloß jene Ergebnisse, die sie später in der Begründung des Bescheids verwenden will (11101 A/83).
In 11540 A/84 wurde entschieden: "Die Berücksichtigung von Beweisergebnissen, welche auf gesetzwidrige Weise gewonnen wurden, ist zur Ermittlung der materiellen Wahrheit nur dann unzulässig, wenn das Gesetz dies anordnet oder wenn die Verwertung des betreffenden Beweisergebnisses dem Zweck des durchseine Gewinnung verletzten Verbotes widerspräche." (Vgl. dazu die Problematik der Verwertung gesetzwidrig erlangter Blutproben, die wir in einem späteren Teil dieser Serie behandeln werden.)
Wird der Bescheid dann erlassen, so muß er vom Genehmigenden unterschrieben sein. Allerdings muß im Zeitalter von Computer und Kopiergerät nicht mehr jede Ausfertigung unterschrieben sein. Obwohl es sich hier nicht um eine informationsrechtliche Frage handelt, gehen wir weiter unten in einem eigenenKapitel darauf ein.
Jeder Bescheid muß begründet werden (damit der Partei die Erhebung eines Rechtsmittels möglich ist). Es ist unzulässig, den Bescheid auf Beweismittel zu stützen, die der Partei nicht zugänglich sind (11204 A/83). Hält es eine Behörde für notwendig, in einem Bescheid Vergleichsfälle zu zitieren, sodarf sie diese nicht unter Berufung auf den Datenschutz geheimhalten (12684 A/88).
Noch zwei Fälle: Im Verwaltungsstrafrecht gibt es keine Bestimmung, die die Behörde dazu verpflichten würde, den Beschuldigten über sein Recht auf Verweigerung der Aussage (Par. 33 Abs. 2 VStG) zu belehren (9596 A/78). Und im Verwaltungsverfahren ist die Behörde einem Ausländer gegenüber, auch wenner der deutschen Sprache nicht mächtig ist, nicht verpflichtet, ausnahmslos in jedem Fall einen Dolmetscher beizuziehen. Der Ausländer muß sich trotz Sprachunkenntnis über die in Österreich geltenden Gesetze selbst informieren (9597 A/78).
Akteneinsicht
Par. 17 AVG räumt den Parteien eines Verwaltungsverfahrens das Recht ein, Einsicht in die ihre Sache betreffenden Akten oder Aktenteile zu nehmen und davon an Ort und Stelle Abschriften oder - auf eigene Kosten - Kopien herzustellen (Abs. 1). Die Akteneinsicht muß allen Parteien in gleichem Umfanggewährt werden (Abs. 2). Von der Akteneinsicht ausgenommen sind interne Protokolle und Entwürfe und Aktenteile, deren Einsichtnahme die Interessen einer anderen Person (z.B. deren Recht auf Datenschutz) oder den Zweck des Verfahrens gefährden würde (Abs. 3). Gegen die Verweigerung der Akteneinsichtist kein Rechtsmittel zulässig (Abs. 4).
Wichtigste Voraussetzung für die Akteneinsicht ist die Parteistellung, es genügt nicht, bloß Beteiligter zu sein. (8444 A/73, Par. 8 AVG: "Personen, die eine Tätigkeit der Behörde in Anspruch nehmen oder auf die sich eine Tätigkeit der Behörde bezieht, sind Beteiligte und, insoweit sie an der Sachevermöge eines Rechtsanspruches oder eines rechtlichen Interesses beteiligt sind, Parteien.") Entscheidungen dazu: allgemein: 5649 A/61 (Verwaltungsstrafverfahren), 9612 A/78; speziell: 2903 A/53 (Witwenfortbetrieb eines Gewerbes), 4421 A/57 (Wohnhaus-Wiederaufbaugesetz), 9328 A/77(Verkehrsunfall).
Akteneinsicht steht Parteien jedenfalls zu, wenn die Kenntnis der Akten zur Geltendmachung oder Verfolgung eines rechtlichen Interesses oder eines Rechtsanspruches notwendig erscheint (8444 A/73).
Das Recht auf Akteneinsicht ist kein eigenständiges Recht. In Par. 17 Abs. 4 AVG heißt es daher auch ausdrücklich, daß es gegen die Verweigerung der Akteneinsicht kein Rechtsmittel gibt. Fühlt sich die Partei in ihrem Recht auf Akteneinsicht verletzt, so muß sie auf den Bescheid (z.B. eineBaubewilligung) warten und dagegen dann Berufung erheben. Die Behörde kann einen Antrag auf Akteneinsicht aber auch in einem selbständigen Bescheid behandeln, wenn der Antrag auf Akteneinsicht mit dem eigentlichen Verfahren gar nichts zu tun hat (12553 A/87, 6171 F/86). Leider ist den Erkenntnissennicht zu entnehmen, ob die Behörde dazu auch verpflichtet ist.
Die Behörde ist nicht verpflichtet, ihre Bereitschaft, Akteneinsicht (nach Par. 17 AVG) zu erteilen, der Partei ausdrücklich mitzuteilen (8603 A/74). Dies gilt auch für das ähnlich formulierte Recht auf Akteneinsicht nach Par. 90 BAO (5654 F/82).
Im Verwaltungsstrafverfahren nach einem Verkehrsunfall steht der Haftpflichtversicherung kein Recht auf Akteneinsicht zu - es sei denn, sie ist vom Versicherten bevollmächtigt. Die Versicherung ist nämlich im Verwaltungsstrafverfahren nicht einmal Beteiligte (9751 A/79).
Im Baubewilligungsverfahren geht das Recht auf Akteneinsicht nicht auf den späteren persönlichen Rechtsnachfolger (Erben) der Partei über, aber vielleicht auf den späteren dinglichen Rechtsnachfolger (jetzigen Eigentümer des Bauplatzes bzw. Nachbargrundes) - 10782 A/82.
Wird jemand durch ein Verwaltungsorgan zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, so handelt es sich nicht um ein Verfahren, sondern um eine faktische Amtshandlung. Da das AVG darauf nicht anzuwenden ist, gibt es kein Recht auf Akteneinsicht in die bei der Aufnahme gemachtenAufzeichnungen (11841 A/85) - eine bedauerliche Lücke. Wären die Aufzeichnungen automationsunterstützt gespeichert, so hätte der Betroffene ein Auskunftsrecht nach Par. 11 oder Par. 25 DSG.
Sozialversicherung
Nach Par. 42 ASVG muß jeder Dienstgeber dem Versicherungsträger versicherungsrelevante Auskünfte erteilen (binnen 14 Tagen) und Einsicht in die Geschäftsbücher gestatten. Die 14-Tage-Frist gilt nur für die Auskunftserteilung, Einsicht muß jederzeit gestattet werden (11636 A/85). Der VfGH hatübrigens entschieden, daß die Verpflichtung des Par. 42 ASVG durch die Verschwiegenheitspflicht für Anwälte und Notare nicht aufgehoben wird - siehe Teil 2 der Serie, DIR 2/92, S. 45.
Der VwGH entschied, daß der Dienstgeber einen Feststellungsbescheid über den Umfang seiner Pflichten nach Par. 42 ASVG verlangen kann (8878 A/75). - Fehlen Unterlagen oder Belege, so kann der Versicherungsträger auch auf andere Informationen (z.B. auf Schätzungen anhand von Vergleichswerten)zurückgreifen (Par. 42 Abs. 3, 10611 A/81).
EDV in der Verwaltung: Par. 18 Abs. 4 AVG
Bis zum 31. Dezember 1982 mußte (nach Par. 18 Abs. 4 AVG, ähnliches gilt für Par. 96 BAO) jede schriftliche Ausfertigung einer Behörde mit der Unterschrift des Genehmigenden oder mit der Beglaubigung der Kanzlei versehen sein. (Die Kanzlei beglaubigt, daß das verschickte Papier mit dem Original imAmt übereinstimmt und daß das Original unterschrieben ist. Es genügt auch, wenn im Amt statt dem Original selbst der das Original umhüllende Referatsbogen unterschrieben ist - 10491 A/81.)
Bis Ende 1982 war daher ein verschicktes Schriftstück ohne Unterschrift oder Beglaubigung kein Bescheid; eine Berufung dagegen mußte als unzulässig zurückgewiesen werden. Geschah dies nicht, so hob der VwGH den Berufungsbescheid als rechtswidrig auf (8875 A/75). Insbesondere war ein Fernschreibenkein Bescheid (10170 A/80).
Seit 1983 kann bei vervielfältigten (= fotokopierten) oder automationsunterstützt erstellten Ausfertigungen auf Unterschrift und Beglaubigung verzichtet werden (dazu 11444 A/84, 11552 A/84). Es muß sich allerdings immer noch irgendwo (Urschrift, Referatsbogen, ...) eine Originalunterschrift finden,damit ein Bescheid vorliegt (12221 A/86, 12333 A/86, 12390 A/87, 12734 A/88, 6115 F/86). Von dieser Ansicht ging der VwGH auch nicht ab (12710 A/88), nachdem der VfGH Par. 18 Abs. 4 AVG für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt hatte (siehe Teil 1 dieser Serie, DIR 4/91, S. 21).
Der VwGH war gegenüber Ausfertigungen ohne Unterschrift immer skeptisch. Zuerst hatte er vervielfältigte Ausfertigungen nur dann zugelassen, wenn dies aufgrund der großen Anzahl der zu versendenden Schriftstücke notwendig war (11371 A/84). Später widerrief er dieses Ansicht in einem verstärktenSenat (11983 A/85): Vervielfältigungen ohne Unterschrift und Beglaubigung seien auch im Einzelfall zulässig. 1990 stellte der Gesetzgeber dann klar: Werden Fotokopien verschickt, so genügt es, wenn die Unterschrift oder Beglaubigung am Original angebracht ist und mitkopiert wird.
Die Frage, woran man erkennt, ob ein Bescheid mittels EDV erstellt wurde, löste der VwGH originell (11642 A/85): Ein EDV-Bescheid liege dann vor, wenn im "maschinschriftlichen" Text des Bescheides die DVR-Nummer zitiert sei. Darauf sollte man sich in der Praxis besser nicht verlassen.
In 11728 A/85 entschied der VwGH: "Die Rechtmäßigkeit eines Bescheides kann nicht an den Möglichkeiten eines vorhandenen EDV-Programmes gemessen werden; dieses ist vielmehr an die gesetzlichen Erfordernisse anzupassen." - In der Praxis werden dennoch oft die Gesetze an die Programme angepaßt.
Manchmal muß der Computer als Entschuldigung für mangelnde Lesefähigkeiten herhalten. Der Geschäftsführer einer GesmbH hatte mit der Rechtsmittelbelehrung eines vom Computer gedruckten Bescheides Probleme: Ein Einspruch habe "einen begr. Antrag zu enthalten", hieß es dort. Der VwGH wies die gegendas Wörtchen "begr." gerichtete Beschwerde ab (11616 A/84).
Melderegister
Die verschiedenen Erkenntnisse zum Meldewesen zeigen die Absurdität dieses Registers auf. Z.B.: Wer zwangsweise oder rechtswidrig delogiert wird, muß sich abmelden und bei der neuen Wohnung (bzw. Notunterkunft) anmelden (10966 A/83, 12407 A/87). Und zwar innerhalb von drei Tagen - auch wenn erhofft, zwei Wochen später wieder einziehen zu können. Der Staat will nicht wissen, zu welcher Adresse sich ein Mensch zugehörig fühlt, sondern wo er tatsächlich wohnt.
Diese starke Bindung des Melderegisters an die Fakten ist für den Staat teuer erkauft. Eine Meldung nach dem Meldegesetz ist im Verwaltungsverfahren völlig nutzlos, taugt nicht als Beweis.
Die Tatsache, daß ein Mann in der Wohnung einer Frau gemeldet ist, ist noch kein Beweis dafür, daß eine eheähnliche Lebensgemeinschaft besteht (10775 A/82). - Einem Deutschen, der in Wien studiert und hier gemeldet ist, wurde der deutsche Führerschein aberkannt, da die Behörde der Ansicht war, daßsein ordentlicher Wohnsitz nun in Österreich liege (mit einem ausländischen Führerschein dürfen nur Touristen fahren). Der VwGH entschied aber: "Die Meldung nach dem MeldeG ist für die Beurteilung, wo eine Person ihren ordentlichen Wohnsitz hat, nicht entscheidend." (12648 A/88)
Für Verwaltungsjuristen ist es wichtig, Unrecht zu klassifizieren: Die Unterlassung der Abmeldung ist ein Dauerdelikt (3156 A/53). Noch präziser: Wer eine Meldepflicht (An- und Abmeldung) nicht erfüllt, begeht ein Ungehorsamsdelikt, dem die Wirkung eines Dauerdeliktes zukommt (12445 A/87).Jedenfalls steht sowohl das Nicht-Melden als auch die Aufrechterhaltung dieses rechtswidrigen Zustands unter Strafe.
Die katholische Kirche muß, wenn sie zum Eintreiben der Kirchenbeiträge eine Meldeauskunft einholt, öS 10.- Verwaltungsabgabe zahlen - wie jeder andere auch. Mit einer spitzfindigen Begründung wollte sie dieser lästigen Pflicht entgehen: Das Einheben der Beiträge sei durch Gesetz vorgesehen, dieKirche daher "in Vollziehung der Gesetze" - also als staatliche Behörde - tätig. Der VwGH konnte dieser Ansicht nicht folgen (10883 A/82).
Weitere Erkenntnisse: 11359 A/84 (Beherbergungsbetriebe), 11546 A/84 (Wohnsitzänderung und Waffengesetz).
Polizeirecht
Fremdenpolizei: Ein fremdenpolizeiliches Aufenthaltsverbot kann auch aufgrund von getilgten Vorstrafen verhängt werden (9847 A/79). - Zur erkennungsdienstlichen Behandlung durfte ein Flüchtling 1988 nicht vorgeladen werden, da die erkennungsdienstliche Behandlung (Fingerabdrücke, Fotos) vonFlüchtlingen gesetzlich nicht vorgesehen war (12772 A/88).
Wer eine Eintragung ins Strafregister für rechtswidrig hält, kann sich beim Innenminister beschweren. Betrifft die Eintragung eine Verurteilung eines ausländischen Gerichts, so hat der Innenminister zu prüfen, ob dieses Gericht die Grundsätze eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens (Art. 6 MRK)eingehalten hat. Gegen den Bescheid des Ministers ist eine VwGH-Beschwerde zulässig (10837 A/82). Gegen eine im Strafregister eingetragene Fahndung eines österreichischen Gerichts kann man sich jedoch bei Verwaltungsbehörden (also z.B. beim Innenminister) nicht beschweren (13035 A/89).
Zu einer Festnahme gehört nach Ansicht des VwGH eine Personsdurchsuchung dazu. Für diese ist keine eigene Begründung oder Rechtfertigung notwendig (10870 A/82).
Weitere Erkenntnisse: 8524 A/73 (Fremdenpolizei), 11181 A/83 (Paßgesetz, Verweigerung der Ausweisleistung).
In der nächsten Folge werden wir uns vor allem mit Fragen des Datenschutzes (z.B. Beschwerden gegen DSK-Bescheide) und mit dem Auskunftsrecht beschäftigen.
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