1992/12/31 Serie: Rechtsprechung zum Informationsrecht
DIR Teil 3: EGMR und EKMR
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Teil 3: EGMR und EKMR
In den ersten beiden Folgen unserer Serie hatten wir über die Rechtssprechung des österreichischen Verfassungsgerichthofes berichtet. Wir bleiben beim Verfassungsrecht, wechseln aber sozusagen die Instanz. Denn wer der Ansicht ist, daß der Verfassungsgerichtshof oder ein anderes Höchstgericht ihn inseinen Grundrechten verletzt hat, kann sich in Straßburg gegen die Republik Österreich beschweren.
Dort entscheidet zuerst die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) über die Zulässigkeit der Beschwerde. Der überwiegende Großteil der Beschwerden wird von der Kommission für unzulässig erklärt. Ist eine Beschwerde aber zulässig und gelingt es der Kommission nicht, zwischen demBeschwerdeführer und dem Staat eine gütliche Einigung herbeizuführen, dann entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). (Das Verfahren ist relativ kompliziert, in vielen Fällen landet die Beschwerde auch beim Ministerkomitee des Europarats.)
Beginn Kasten
Art. 8 MRK: "(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. (2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt,die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheitenanderer notwendig ist."
Ende Kasten
Entscheidungsgrundlage für alle diese Gremien ist jedenfalls die Europäische Menschenrechtskonvention (MRK), die in Österreich im Verfassungsrang steht. Informationsrechtlich interessant ist dabei vor allem das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8, siehe Kasten). Das Grundrecht auf freieMeinungsäußerung (Art. 10) betrifft in der Praxis vor allem das Medienrecht, welches wir im Rahmen dieser Serie nicht behandeln. Sehr häufig werden die Straßburger Instanzen wegen Art. 6 MRK angerufen. Dieser Artikel garantiert jedermann faire Straf- und Zivilprozesse und damit auch Fairness bei derBeweisermittlung. Ein eigenes Grundrecht auf Datenschutz (mit den dafür typischen Rechten auf Auskunft, Richtigstellung und Löschung) gibt es in der MRK nicht.
Die meisten der zitierten Entscheidungen sind in der Europäischen Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) abgedruckt.
Wie bereits in der ersten Folge erwähnt, erhebt die Serie keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Gerade bei den Straßburger Instanzen war die Auswahl schwierig. Eine große Zahl von Fällen betrifft das Grundrecht auf ein faires Verfahren (Art. 6 MRK). Man kann das Verfahrensrecht zwar prinzipiell zumInformationsrecht rechnen, wir bringen aber nur ausgewählte Fälle, z. B. zur Telefonüberwachung im Strafverfahren. Das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 MRK) wiederum betrifft nur in wenigen Fällen Datenschutzfragen.
Die meisten Beschwerden nach Art. 8 betreffen fremdenpolizeiliche Bestimmungen, die den Familiennachzug von Ausländern erschweren, oder Elternrechte wie z. B. Besuchsregelungen nach der Scheidung, die Schule (z. B. "Belgischer Sprachenfall") oder die rechtliche Stellung unehelicher Kinder (z. B.Marckx gegen Belgien). Manche Beschwerden nach Art. 8 betreffen Diskriminierungen von Homosexuellen oder Transsexuellen. In letzterem Fall besteht wieder ein Bezug zum Informationsrecht: In manchen Staaten (z. B. in Großbritannien) besteht nach Geschlechtsumwandlungen kein Anspruch auf Korrektur derEintragung in der Geburtsurkunde bzw. des Personenstandsregisters. Der oder die Betroffene darf dann z. B. nicht mehr heiraten.
Klass u. a. gegen die BRD
Das sogenannte "Abhör-Urteil" des EGMR (Urteil vom 6. Sept. 1978, EuGRZ 1979, 278) beschäftigt sich mit dem deutschen "G 10". Hinter dieser Kurzbezeichnung verbirgt sich ein Gesetz, das die Beschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses vorsieht. Die deutschen Verfassungsschützer dürfen demnachunter bestimmten Voraussetzungen den Briefverkehr und die Telefonate verdächtiger Personen überwachen. Die Betroffenen werden darüber auch nicht nachträglich verständigt, können sich daher nicht beschweren und damit die Rechtmäßigkeit der Überwachung kontrollieren lassen.
Der Staatsanwalt Gerhard Klass, ein Richter und mehrere Rechtsanwälte beschwerten sich gegen dieses Gesetz. Sie fühlten sich im Grundrecht auf Privatleben (Art. 8 MRK) und im Grundrecht auf ein faires Verfahren vor einem Gericht (Art. 6 und 13 MRK) verletzt. Vor dem deutschenBundesverfassungsgericht erhielten sie nur teilweise recht: verfassungswidrig sei, daß die Betroffenen prinzipiell nicht verständigt würden - auch, wenn die Verständigung den Zweck der Überwachung nicht gefährden würde. Die daraufhin angerufene EKMR erklärte die Beschwerde für zulässig (EuGRZ 1975,343), verfaßte einen Bericht (EuGRZ 1977, 419) und brachte den Fall vor den Gerichtshof.
Der EGMR entschied, daß keine Verletzung der Konvention vorliegt. Bei der Überwachung des Briefverkehrs und von Telefonaten lägen zwar Eingriffe in das Grundrecht auf Privatleben vor, diese seien aber durch Gesetz (in ausreichend bestimmter Weise) vorgesehen und dienten den von Art. 8 Abs. 2erlaubten Zwecken. Die Eingriffe seien auch notwendig, um den durch moderne Technik "sehr verfeinerten Formen der Spionage" und dem Terrorismus entgegenzutreten. Sehr genau analysierte der Gerichtshof daraufhin die Maßnahmen, die zum Schutz vor Mißbrauch des Gesetzes vorgesehen sind.
Vor allem die Überwachung der Maßnahmen durch die unabhängige "G 10-Kommission" und ein parlamentarisches Gremium (in dem auch die Opposition vertreten ist) ist nach Ansicht des EGMR ein geeigneter Schutz gegen Mißbrauch und auch ein geeigneter Ersatz für die Beschwerdemöglichkeit der Betroffenenselbst. (Anmerkung der ARGE DATEN: In Österreich gibt es zur Überwachung der Staatspolizei kein parlamentarisches Gremium).
Malone gegen Großbritannien
Der Antiquitätenhändler James Malone wurde der Hehlerei beschuldigt, aber zweimal freigesprochen. Malone warf der Polizei vor, seinen Briefverkehr und seine Telefongespräche über mehrere Jahre überwacht zu haben. Obwohl die Regierung dies bestritt, untersuchte der EGMR den Fall (Urteil vom 2. August1984, EuGRZ 1985, 17) Wie im Fall Klass entschied der Gerichtshof, daß die Möglichkeit der geheimen Überwachung selbst schon einen Eingriff in das Grundrecht auf Privatleben darstellt - ohne daß eine tatsächliche Überwachung nachgewiesen werden muß.
Nach Art. 8 Abs. 2 MRK muß ein solcher Eingriff vom Gesetz vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für bestimmte Zwecke notwendig sein. Als "vom Gesetz vorgesehen" sieht der EGMR jede Vorschrift an, die öffentlich zugänglich ist und die so präzise formuliert ist, daß der Bürger dieFolgen seines Verhaltens abschätzen kann. In Großbritannien gibt es jedoch viele Bestimmungen, die niemals als Gesetz erlassen wurden, sondern bloßes Gewohnheitsrecht sind. Der EGMR entschied, daß die Überwachung im Fall Malone nicht "vom Gesetz vorgesehen" war und daher gegen Art. 8 MRK verstoßenhat. Ob der Eingriff "in einer demokratischen Gesellschaft" notwendig gewesen sei, prüfte der Gerichtshof dann nicht mehr.
Das Urteil ist daher nur für Großbritannien von Bedeutung. Denn in Kontinentaleuropa (und in Österreich ganz besonders) spielt das Gewohnheitsrecht eine weitaus weniger wichtige Rolle. Die Frage, ob ein Grundrechtseingriff "vom Gesetz vorgesehen" sei oder nur durch Gewohnheitsrecht stellt sich daherkaum. Interessant ist deshalb die Kritik des französischen Richters Pettiti an seinen Kollegen: Angesichts der enormen Bedrohung der Bürger, die von modernen Überwachungstechniken (Telefonüberwachung und Datenbanken) ausgehe, sei es bedauerlich, daß sich der Gerichtshof damit begnügt habe, einenFormalfehler festzustellen. Er hätte das Urteil wegen seiner prinzipiellen Bedeutung genauer begründen sollen.
Schenk gegen die Schweiz
Der Schweizer Bürger Pierre Schenk wollte seine Frau ermorden lassen und hatte Herrn Pauty damit beauftragt. Dieser benachrichtigte jedoch Frau Schenk und das Gericht. Um ein Beweismittel zu erhalten, zeichnete Pauty in der Wohnung seiner Mutter in der Nähe von Paris ein Telefongespräch auf. DieseAufnahme ist nach Schweizer Recht rechtswidrig zustandegekommen, wurde aber vom Gericht als Beweismittel verwendet. Schenk beschwerte sich in Straßburg wegen der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 MRK) und der Verletzung von Art. 8 MRK. Dieser Fall ist insofern anders als derFall Malone, da die Überwachung nicht durch die Polizei, sondern durch eine Privatperson erfolgte. Die Grundrechte gelten aber nur für den Staat, also im konkreten Fall nicht für die Aufzeichnung des Gesprächs, sondern für die Verwertung.
Der EGMR entschied (Urteil vom 12. Juli 1988, EuGRZ 1988, 390): Art. 6 MRK enthält keine generellen Regeln über die Zulässigkeit von Beweismitteln. Ein rechtswidrig erlangtes Beweismittel kann daher verwendet werden, das Verfahren muß allerdings insgesamt fair sein. Die behauptete Verletzung vonArt. 8 MRK wurde nicht geprüft, da der innerstaatliche Instanzenzug nicht erschöpft war.
Leander gegen Schweden
Torsten Leander arbeitete als Techniker in einem Schiffahrtsmuseum in Karlskrona. Das Museum hat Lagerräume innerhalb des Gebiets des Marinestützpunkts Karlskrona, der militärisches Sperrgebiet ist. Wenige Tage nach seiner Einstellung wurde Leander wieder entlassen, da eine Sicherheitsüberprüfungseiner Person durch die Polizei negativ ausfiel. Der Inhalt der Eintragung im Polizeiregister wurde ihm nicht mitgeteilt. Leander vermutete, daß seine frühere Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei Schwedens und der Soldatengewerkschaft sowie Reisen nach Osteuropa der Grund seien. Dieverantwortlichen Stellen hätten dies aber verneint. Die bloße Mitgliedschaft in irgendeiner Organisation darf nach schwedischem Recht auch nicht Grund für eine Eintragung im Polizeiregister sein.
Der EGMR entschied in seinem Urteil vom 26. März 1987 (Serie A, Band 116), daß der Eingriff durch Art. 8 Abs. 2 MRK gerechtfertigt sei: Das schwedische Recht sei ausreichend präzise, die Maßnahme sei notwendig zur Wahrung der nationalen Sicherheit, es existierten unabhängige Kontrolleinrichtungen(Justizminister, "Justizkanzler", der Ombudsmann des Parlaments, ein parlamentarisches Komitee, das verfassungsrechtlich verankerte Recht auf freien Zugang zu staatlichen Dokumenten und das Schadenersatzrecht).
Über aktuelle Entscheidungen der EKMR zu Sicherheitsüberprüfungen in Großbritannien berichtet die EuGRZ 1990, 198. Die Fälle (Nr. 12175/86 und 12327/86) sind beim Ministerkomitee des Europarats anhängig.
Golder gegen GB, Silver u. a. gegen GB, Campbell und Fell gegen GB
Eine große Zahl von Beschwerden an die EKMR betrifft die Haftbedingungen in Großbritanniens Gefängnissen, insbesondere die Briefkontrolle und -zensur und die damit verbundenen Schwierigkeiten beim Zugang zu juristischer Beratung. Der EGMR fällte Urteile in den Fällen Golder (21. Februar 1975, EuGRZ1975, 91), Silver u. a. (25. März 1983, EuGRZ 1984, 147) und Campbell und Fell (28. Juni 1984, EuGRZ 1985, 534) und stellte u. a. jeweils Verletzungen im Grundrecht auf Achtung des Briefverkehrs (Art. 8 MRK) fest. Zum Teil stützen sich die Urteile (wie im Fall Malone) darauf, daß die Zensur nicht"vom Gesetz vorgesehen" sei.
Sidney Elmer Golder war überhaupt jeder Briefverkehr verboten. Im Fall Silver u. a. wurden vor allem Briefe an Journalisten, Anwälte und Parlamentarier zurückgehalten, wenn sie Beschwerden enthielten. Im Fall Campbell wurde die Erlaubnis zur Korrespondenz mit einem Anwalt von einer "vorgängigenÜberprüfung" abhängig gemacht. All das waren Verletzungen von Art. 8 MRK. Nicht verletzt wurde die Konvention etwa durch die vorübergehende Zurückhaltung von Briefen zur Einholung der Stellungnahme einer vorgesetzten Behörde oder die Zensur von Briefen, die Gewaltandrohungen enthielten.
Can gegen Österreich
Während seiner Untersuchungshaft in Wels wurden die Gespräche zwischen dem der Brandstiftung verdächtigen Elvan Can und seinem Rechtsanwalt überwacht. Can wurde später zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten verurteilt. Die EKMR sah durch die Überwachung der Gespräche die Frage aufgeworfen, ob dasRecht auf ein faires Verfahren (Art. 6 MRK) verletzt sei. Der EGMR strich den Fall jedoch aus der Liste der anhängigen Verfahren, da sich Can und die Republik Österreich gütlich geeinigt hatten und die Regierung versprach, die Strafprozeßordnung entsprechend dem Bericht der Kommission zu verbessern.(EuGRZ 1986, 274 enthält Auszüge aus dem Urteil des EGMR vom 30. September 1985 und dem Bericht der EKMR.)
Unterpertinger gegen Österreich
Herr Unterpertinger wurde zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, weil er seine Frau und seine Stieftochter verletzt hatte. Im Verfahren vor dem Landesgericht Innsbruck und im Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht machten Frau Unterpertinger und die Stieftochter von ihremAussageverweigerungsrecht Gebrauch und konnten daher nicht als Zeuginnen vernommen werden. Stattdessen wurden ihre Aussagen vor der Gendarmerie verlesen. Die Gerichte verwendeten diese Aussagen nicht bloß als Informationsquelle, sondern als hauptsächliches Beweismittel.
In seinem Urteil vom 24. November 1986 (EuGRZ 1987, 147) stellte der EGMR fest: Weder das Aussageverweigerungsrecht naher Angehöriger noch die Verlesung von Gendarmerieprotokollen verstoßen als solche gegen das Grundrecht auf ein faires Verfahren. Im vorliegenden Fall wurde der Beschwerdeführer aberauf der Grundlage von Aussagen verurteilt, hinsichtlich derer seine Verteidigungsrechte erheblich eingeschränkt waren. Dadurch sei Art. 6 MRK verletzt worden. Österreich wurde zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt. Anmerkung der ARGE DATEN: Der Mißstand, daß Aussageverweigerungsrechte durch dieVerlesung von früheren Protokollen umgangen werden, ist immer noch nicht saniert.
Funke gegen Frankreich
Ebenfalls Fragen der Beweisermittlung warf das Verfahren Funke gegen Frankreich auf. Der Beschwerdeführer war wegen des Verdachts von Devisenvergehen gezwungen worden, seine Konten offenzulegen. Die EKMR prüfte die Fragen, ob dadurch ein unzulässiger Zwang zur Selbstbeschuldigung (Art. 6 MRK) oderdas Grundrecht auf Privatleben (Art. 8 MRK) verletzt würden. Zum Zeitpunkt der Berichterstattung in der EuGRZ (1989, 461) war das Verfahren noch vor der Kommission anhängig (Nr. 10828/84).
Volkszählung in Österreich
Am 14. November 1976 fand aufgrund des Volkszählungsgesetzes eine geheime Erhebung der Muttersprache statt. Die Beschwerdeführerin, eine deutschsprechende Slowenin, fühlte sich dadurch erniedrigend behandelt (Art. 3 MRK), daß es ihr nicht möglich war, die Zugehörigkeit zur slowenischen Minderheitanzugeben - gefragt wurde ja nach der Muttersprache. Die EKMR entschied, daß die MRK nicht verletzt sei und erklärte die Beschwerde für unzulässig (Entscheidung vom 10. Oktober 1979, EuGRZ 1980, 34).
Volkszählung in Großbritannien
Ein britischer Staatsbürger wurde wegen der Verweigerung der Teilnahme an der Volkszählung im April 1981 verurteilt. Seine auf Art. 8 MRK gestützte Beschwerde wurde von der EKMR für unzulässig erklärt (Entscheidung vom 6. Oktober 1982, EuGRZ 1983, 410): Die Volkszählung sei ein vom Gesetzvorgesehener und notwendiger Eingriff. Außerdem würden Name und Adresse nicht gespeichert und es bestehe ein 100jähriges Verwertungsverbot. Der Beschwerdeführer hat sich aber offenbar prinzipiell gegen die Volkszählung beschwert und nicht gegen bestimmte Fragen, sodaß die Kommission nicht näher aufdie Fragen einging.
Lingens gegen Österreich
Im Jahr 1975 hatte der Chefredakteur des "profil", Peter Michael Lingens, das Verhalten des Bundeskanzlers Kreisky in der Affäre um Friedrich Peters SS-Mitgliedschaft so bezeichnet: "Bei einem anderen würde man es wahrscheinlich übelsten Opportunismus nennen." - "... es ist unmoralisch. Würdelos."Weil Lingens für dieses Werturteil keinen Wahrheitsbeweis erbringen konnte, wurde er wegen übler Nachrede verurteilt. Der EGMR entschied, daß das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 MRK) verletzt sei: Für ein Werturteil dürfe kein Wahrheitsbeweis verlangt werden, ein Politiker müsse sichaußerdem mehr öffentliche Kritik gefallen lassen als eine Privatperson (Urteil vom 8. Juli 1986, EuGRZ 1986, 424).
Der Fall wird in dieser Serie - obwohl er dem Medienrecht zuzurechnen ist - als Beispiel für das Spannungsverhältnis zwischen den Grundrechten auf Privatleben und auf freie Meinungsäußerung gebracht. Im vorliegenden Fall hatte zwar der Gerichtshof entschieden, das Recht auf Privatleben nicht zuprüfen, der isländische Richter Thór Vilhjálmsson hatte sich dem aber nur zögernd angeschlossen: Der Gerichtshof hätte seiner Ansicht nach auch prüfen sollen, ob Kreisky als Privatperson angegriffen worden ist.
Fingerabdrücke und Fotografien
Wie in der letzten Folge erwähnt, weist der österreichische Verfassungsgerichtshof Beschwerden gegen polizeiliche Fotografien als unzulässig ab. Die EKMR ist da anderer Auffassung: In den Entscheidungen Nr. 8022/77, 8025/77 und 8027/77 (EuGRZ 1981, 93 = "McVeigh-Fall") - Beschwerdeführer sind dreiPersonen, die wegen des Verdachts terroristischer Betätigung festgenommen wurden - entschied sie, daß durch die Abnahme von Fingerabdrücken und die Erstellung von Fotografien u. a. schwierige Fragen zu Art. 8 MRK aufgeworfen würden. Der Eingriff sei durch Art. 8 Abs. 2 MRK gedeckt, die Beschwerdenwurden zugelassen. Ähnlich entschied die Kommission im Fall Nr. 8260/78 (EuGRZ 1982, 313), ebenfalls gegen Großbritannien.
Gaskin gegen Großbritannien
Wegen des Todes seiner Mutter wurde das Sorgerecht für den Beschwerdeführer Gaskin von 1959 bis zu seiner Volljährigkeit 1977 auf die Gemeinde übertragen. Um ärztliche Hilfe wegen seiner in dieser Zeit entstandenen psychologischen Probleme zu erhalten, ersuchte Gaskin um Akteneinsicht in seinenFürsorgeakt. Dies wurde ihm jedoch verweigert. Die Kommission stellte fest, daß schwierige Fragen im Bezug auf die Auslegung von Art. 8 MRK und Art. 10 MRK aufgeworfen worden seien und ließ die Beschwerde zu (Nr. 10454/83, EuGRZ 1987, 561). Interessant ist, daß die Kommission Art. 10 MRK nicht bloßals Recht auf Zugang zu allgemeinen Informationsquellen (z. B. für Journalisten) betrachtet, sondern (vorsichtig) dazu übergeht, es im Einzelfall auch als Recht auf Zugang zu für den Betroffenen wichtigen Akten zu interpretieren.
In der nächsten Folge werden wir über die Rechtsprechung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs berichten.
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