2002/06/04 Welche Sicherheit braucht das Land?
Freiheit gegen Sicherheit - das vielbeschworene Gegensatzpaar. Existiert es wirklich? Es kommt nicht bloß darauf an, Freiheit und Sicherheit in irgendeinem Verhältnis zu schaffen, sondern Qualität und Nachhaltigkeit täglich zu verbessern.
Der Artikel erschien in einer Langform im Politischen Jahrbuch 2001
Soll und Haben
Viele empfinden das Jahr 2001 als sicherheitspolitisches Alptraumjahr. Nicht erst der 11. September zeigte die globale Verwundbarkeit einer industriell-finanzorientieren Wertegemeinschaft. Das lange Ringen um Frieden am Balkan, bei dem die Europäische Gemeinschaft lange Zeit eine höchst marginalisierte Rolle spielte, aber auch der eskalierende Krieg zwischen Israelis und Palistinänser führen uns täglich vor Augen, daß wirtschaftliche Effizienz, technologischer Fortschritt und materieller Reichtum noch keine automatischen Garanten für Freiheit, Frieden und Sicherheit darstellen.
Die Selbstmordanschläge des letzten Jahres, verkürzte Gerichtsverfahren, flächendeckender Lauschangriff und unbefristetes Festhalten ohne Anklage stehen global, die Telekomüberwachungsverordnung, die unbefristete Weiterführung der besonderen Ermittlungsmaßnahmen, neue Evidenzen und zentrale Datensammlungen, die stark steigende Zahl der Telefonüberwachung stehen national auf der Soll-Seite unseres Sicherheitskontos.
Auf der Haben-Seite stehen ein, im wesentlichen gesicherter sozialer Friede, ein geordnetes Austragen wirtschaftlicher Konflikte und Interessensgegensätze, hohe Verkehrssicherheit, ausgedrückt durch die seit 50 Jahren geringste Zahl von Verkehrstoten, hohe kriminaltechnische Sicherheit, ausgedrückt durch eine laufend sinkende Gesamtkriminalität und der - bisher - moderate Einsatz der schweren Grundrechtsgeschütze 'besondere Ermittlungsmassnahmen'. Die 'Rasterfahndung' wurde seit Einführung überhaupt nicht eingesetzt, zumindest nicht offiziell, der 'große Lauschangriff', zwar siebenmal beantragt, siebenmal genehmigt, aber nur sechsmal umgesetzt.
Grund genug Freiheit und Sicherheit ausgeglichen zu bilanzieren, sich zurückzulehnen und zur (parteipolitischen) Tagesordnung überzugehen?
Zukunft und Verantwortung
Zeiten der massiven Irritation müssen genutzt werden, nachzudenken, ob eine ausgeglichene Sicherheitsbilanz alles ist, was eine fortgeschrittene Demokratie, am Sprung zur größen wirtschaftlichen und politischen (?) globalen Einheit zustande bringen kann. Oder ob es nicht unsere Verpflichtung ist, laufend über die Qualität unserer Freiheit und Sicherheit nachzudenken und diese zu verbessern.
Die Anfänge der Umweltpolitik zeigten uns, daß es nicht reicht, Umwelt nach Belieben zu benutzen und zu gebrauchen, dann zu reparieren und sich mit einem mehr oder weniger positiven Saldo zufrieden zu geben. Eine gesunde Umwelt benötigt, ebenso wie prosperierende Freiheit, nachhaltiges Wirtschaften, im sozialen, im ökonomischen und im politischen Sinne.
Es lohnt sich daher einige politische Grundsatzprojekte und Ideen, die 2001 Österreich prägten, genauer anzusehen und auf ihren nachhaltigen Beitrag zu Freiheit und Sicherheit zu überprüfen.
Alle Leute immer zu überwachen würde sicher viele Kriminalitätsaspekte reduzieren. Angefangen beim Zeitungs- und KFZ-Diebstahl, über Raub und Erpressung bis zu vielen Wirtschaftsdelikten, wären diese zwar oft nicht verhinderbar, aber rascher aufklärbar. Doch keine Sorge, die Menschen würden neue Nischen der Illegalität finden und neue Kriminalitätsformen, etwa Erpressungskriminalität durch die Überwacher, würden entstehen.
Ob Soll und Haben in Sachen Sicherheit und Freiheit in einer derartigen, sozial exhibitionierten Gesellschaft ausgegelichen wären, darf bezweifelt werden.
Heute können wir in großen Bereichen anonym oder zumindest von den Behörden unbeobachtet, unser Leben gestalten. Wir haben die Sicherheit, einen Supermarkt, eine Parkanlage oder ein Cafe aufsuchen zu können, ohne uns dafür rechtfertigen zu müssen. Die anonyme Wahl oder der unbehelligte Besuch einer politischen Veranstaltung, das Wissen jederzeit für oder gegen eine Sache demonstrieren zu können, geben uns die Sicherheit geordnet, mit relativem Wohlstand leben zu können.
Freiheit und Sicherheit als tägliche Herausforderung
Freiheit und Sicherheit sind keine Waren, die wir produzieren, in die Tasche stecken und dann getrost vergessen könnten. Wir müssen beides täglich neu erarbeiten. Jede Maßnahme unserer politischen und sozialen Gemeinschaft von größerer Bedeutung stellt beides immer wieder in Frage, ob wir es wollen oder nicht.
In einem jahrhundertelangen, teilweise schmerzhaften Prozess haben wir uns unsere bürgerlichen Freiheiten und Grundrechte erkämpft, die es uns erlauben, weitgehend geordnet und unbehelligt von staatlicher Willkür zu leben, unseren Geschäften nachzugehen und unser individuelles Privatleben zu gestalten. Die Möglichkeit sich privat zurückzuziehen, nicht permanent Rechenschaft ablegen zu müssen, ist uns so selbstverständlich geworden, das diese Freiheit von vielen von uns nicht mehr wahrgenommen wird. Privatleben ist uns so selbstverständlich wie Luft geworden. Erst wenn sie vergiftet ist, wird sie wieder wahrgenommen.
Ob sich unser Freiheits- und Sicherheitssaldo im Jahr 2001 mehr zum Soll oder Haben neigte, muß jeder von uns individuell beantworten. Nicht erspart bleibt uns jedoch gemeinsam bei jedem neuen politischen und bürokratischen Vorhaben nach der grundrechtlich unbedenklichsten Alternative zu suchen, die Angemessenheit von Eingriffen in die Privatsphäre zu bewerten und bestehende Regelung und Beschränkungen auf ihre Zeitgemäßheit hin zu überprüfen.
Wir müssen 'Freiheit in Sicherheit' als unsere Form des sozialen Lebens akzeptieren und nicht als Geschenk von Herrschern erwarten. Oder wie Benjamin Franklin formulierte, 'Wer Freiheiten aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit.'
In diesem Sinn ist der anstrengende Prozeß, Maßnahmen und Vorschläge der Politk zu hinterfragen und zu kritisieren ein wesentlicher, demokratiebestimmender und nicht bloß notwendiger Beitrag zur Pluralität unserer Wertordnung.
Die größte Gefahr für Freiheit und Sicherheit ist, wenn wir - in Anlehnung an George Orwells Analyse zur Newspeech - uns selbst ein Handlungs- und Denksystem zulegen, in dem wir Sicherheit und Freiheit nur mehr als Abwesenheit von Dieben und Flöhen verstehen.
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